Wie stets bei Beispielen aus meiner Praxis der Paarberatung ist auch hier alles abgeändert worden, was auf reale Personen hinweisen könnte. Wiederum verwende ich drei unterschiedliche Formatierungsarten.
Fett: Fallbeispiel
Kursiv: meine Beobachtungen, Gedanken und Gefühle dazu
Standartformatierung: Allgemeines zur Paartherapie
Ein lesbisches Paar kommt zur fünften Sitzung. Frau X. schildert eine Situation, die sich in Variationen immer wieder zwischen ihnen abspielt:
Frau Y. kommt nach Hause und verkriecht sich gleich hinter ein dickes Buch. Ihre Partnerin möchte Kontakt mit ihr haben und kritisiert den wortlosen Rückzug von Frau Y. Diese reagiert nicht darauf. Schliesslich geht Frau X. alleine spazieren. Das wiederum löst in Frau Y. ein Gefühl des Versagens und der Einsamkeit aus.
Weil es sich hier um eine wiederkehrende Situation handelt, entschliesse ich mich, den Frauen zunächst das Muster ihres Streites aufzuzeigen und erst danach in die Gefühlsarbeit einzusteigen. Das klare, nachvollziehbare Schaubild soll ihnen Orientierung und Halt geben in der aktuellen Verunsicherung. Auch sehen sie mit einem Blick, dass beide beteiligt sind am Streitgeschehen. Das kann es ihnen anschliessend erleichtern, die eigenen Anteile anzuschauen.
Mit Hilfe des Teufelskreis-Modells von Friedemann Schulz von Thun (Miteinander reden 2, 2001), zeige ich den beiden Frauen ihre wunden Punkte auf und ihr übliches Reagieren auf die Äusserungen und Handlungen der Partnerin:
Es gibt vier Stationen, nämlich die Äusserungen und Verhaltensweisen (in den Rechtecken) und die inneren Befindlichkeiten (in den Kreisen) von beiden Partnerinnen.
Ich stelle beiden Frauen viele Fragen zu ihren inneren Befindlichkeiten.
Die eigenen Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken ist ja ein Hauptanliegen jeder Psychotherapie. Zuerst melden sich Gefühle von Wut und Empörung, darunter tauchen weichere Gefühle auf wie Angst, Scham, Schuld, Selbstzweifel, Trauer, Ohnmacht und Einsamkeit.
Ich übe mit beiden Partnern, sich in ihrer Verletzung zu zeigen. (Um aus dem Teufelskreis herauszukommen, ist es wichtig, die innere Befindlichkeit zu offenbaren, die zum verletzenden äusseren Verhalten geführt hat.) Dann geschieht oft folgendes: Sobald ein Partner seine Verletztheit zu zeigen beginnt, hört der andere auf, ihn anzugreifen. Wenn das noch nicht eintritt, gehe ich mit dem andern Partner auf die Suche danach, was es ihm so schwer macht, verträglich zu reagieren. Sobald auch er in der Lage ist, seine Verletzung zu zeigen, hört der Teufelskreis zu drehen auf. Die Paare sind meist verblüfft, wie mühelos sie nun aus dem Schlagabtausch herauskommen. Natürlich braucht das neue Verhalten Übung und Wiederholung, bis es auch im Alltag greift. Das erkläre ich den Paaren immer wieder.
Mit der Zeit wird dann sichtbar, dass die innere Not bei beiden Partnern
eine Vorgeschichte hat. Das Verhalten des einen löst beim andern nicht nur eine
aktuelle Verletzung aus, sondern lässt auch alte Verletzungen mitschwingen und
alte Wunden wieder aufbrechen. Fast immer führt die Spur in die Kindheit. Auf
ähnliche Weise wie sich die Partner heute behandeln, wurden sie als Kinder von
ihren Eltern behandelt (vernachlässigt, herabgesetzt, unter Druck gesetzt u.v.m.).
Deshalb wehren sie sich heute so vehement dagegen.
In der Therapie geht es darum, immer und immer wieder die tiefen Verletzungen
in den Dialog zu bringen, d.h. sie zu zeigen einerseits und liebevoll darauf zu
reagieren andrerseits. Dann verheilen mit der Zeit die alten Wunden und der
Teufelskreis springt nicht mehr an.
Ich frage Frau X., was mit ihr passiere, wenn Frau Y. wortlos hinter einem Buch verschwinde? Sie kommt zunächst mit ihrer Wut und Enttäuschung in Berührung. Nach weiteren Fragen meinerseits spürt sie Einsamkeit und Traurigkeit, weil sie ihrer Partnerin scheinbar so wenig bedeutet. Ich sehe, wie Frau Y. aufhorcht in dem Moment, wo Frau X. ihr inneres Befinden zu beschreiben beginnt.
An dieser Stelle könnte ich Frau Y. fragen, was jetzt in ihr vorgehe. Ich könnte sie bitten, es genau zu beschreiben und es dann ihrer Partnerin zugewandt und mit Blickkontakt mitzuteilen. Da die Sitzung bald zu Ende ist, verzichte ich auf diesen Schritt und gehe direkt zur inneren Befindlichkeit von Frau Y., wie sie jeweils in den wiederkehrenden Situationen auftritt.
Nun wende ich mich dem inneren Befinden von Frau Y. zu. Wenn ihre Partnerin etwas von ihr will, genau in dem Moment, wo sie nur noch Ruhe braucht, erzeugt das in ihr ein enormes Druckgefühl. Damit kein Streit entsteht, der das Ganze noch schlimmer macht, schweigt sie. Sie fühlt sich ohnmächtig und unverstanden.
Was sie denn für alternative Reaktionsmöglichkeiten sähen, wenn sie jetzt auf das Teufelskreismodell schauen würden, frage ich beide. Frau X. findet für sich folgende Worte anstelle des früheren Nörgelns: „Liebe Y., ich fühle mich so einsam, wenn du jetzt hinter ein dickes Buch verschwindest.“ Und Frau Y. schlägt statt des wortlosen Rückzugs diesen Satz vor: „Liebe X., ich bin im Unklaren mit mir selbst und brauche grad noch eine Viertelstunde, um mich zu ordnen, danach bin ich bereit, mit Dir zusammen zu sein.“ Beide sind betroffen und irgendwie verblüfft.